Michael Kunzes »Eine Welt« von 1990
Vor 23 Jahren, 1990, zeigte der Kunstverein München eine bemerkenswerte Ausstellung.1 Es
war der erste öffentliche Auftritt des jungen Malers Michael Kunze, der zwei Räume im Obergeschoss
des Gebäudes am Hofgarten mit Wand- und Bodenmalereien in eine begehbare, von
den Farben Blau und Gelb dominierte Bühne verwandelte. Als Akteure traten auf dieser Bühne
hermetische Bilder und seltsame kosmische Zeichen auf, deren von Sonnenstrahlen und
Planeten abgeleitete Formen im Einklang mit der vorherrschenden Himmelsfarbe durchaus
den Eindruck vermittelten, es werde hier ein imaginärer Kosmos beschworen. Auch der vom
Künstler gewählte Titel der Schau – »Eine Welt« – trug seinen Teil dazu bei, zunächst nicht an
die konkrete, wahrnehmbare Welt, sondern an eine andere Entität zu denken. Das Münchner
Publikum wie auch die Kritik reagierten auf diesen Entwurf überwiegend mit Unverständnis
und Desinteresse, was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass die Ideen von Kunze
den um diese Zeit im Kunstdiskurs weitverbreiteten postkonzeptuellen und kontextuellen Positionen
völlig entgegenstanden.
Dass die teils düstere, teils hermetische Atmosphäre der Installation jedoch keine okkulte
Lehre vermitteln wollte und die imaginäre Weltsicht von Kunze durchaus ihre konkreten
Formen aufwies, wurde jedoch dem Besucher klar, der sich der starken Präsenz des von den
beiden Farben definierten Raumes und der Vielschichtigkeit der Bilder und
Zeichen bewusst wurde. Der Künstler hat übrigens in seinem Statement in der
zur Ausstellung erschienenen Publikation, wenn auch in verschlüsselter Form,
einige Hinweise zum Verständnis des Titels seiner Inszenierung gegeben: »Wer
von einer Welt spricht und damit meint, eine von vielen möglichen Welten,
für den scheint der Fall klar zu sein. Denn er meint die Grenzen dieser einen
Welt dadurch zu kennen, dass er sie von möglichen anderen Welten unterscheiden
kann. Wer hingegen von einer Welt als einer einzigen und letztlichen
Welt spricht, über die nichts mehr hinausgehen könne, der verstrickt sich
leicht in Widersprüche, die bald zum beherrschenden Thema dieses Sprechens werden. Denn
die These der Letztlichkeit und Umfassendheit einer Welt wirft die Frage nach dem Weg zu
einem solchen Begriff der Totalität auf.«2
Was wie ein philosophisches Traktat klingt, ist in Wirklichkeit ein vielschichtiger Hinweis auf
den Anspruch des Künstlers, seine geistige Welt gegenüber einer grenzenlosen und damit auch
beliebig interpretierbaren »übrigen Welt« abzugrenzen. »Erst die offen zugestandene Unkenntnis
über die Grenzen jener scheinbar umfassenden Welt macht das Sprechen hiervon wieder
sinnvoll und entzieht ihm gleichzeitig seinen Boden.«3 Spätestens hier werden Kunzes Bezüge
zum deutschen Idealismus und zur Romantik sichtbar, die sich dann beim Betrachten der vor
23 Jahren zum ersten Mal im Münchner Kunstverein ausgestellten Gemälde konkretisieren lassen.
Man fühlt sich an bestimmte emblematische Kompositionen von Philipp Otto Runge wie
beispielsweise »Der kleine Morgen« (1808) erinnert, deren poetisch-symbolhafte, in eine beseelte
Natur eingepflanzte Figurationen die pantheistische Weltsicht des Künstlers vermitteln.
Ein romantischer Topos evoziert auch das in der Installation stark hervorgehobene Blau. Der
von Novalis 1800 in die Literatur eingeführten Vision der »blauen Blume« entnahmen Runge
und andere Romantiker nicht nur ihre symbolische Bedeutung als Ausdruck von Sehnsucht und
Ferne, sondern auch als Sinnbild des Weiblichen schlechthin. Die andere, komplementäre Farbe
Gelb, bei Kunze ebenfalls stark präsent, übernahm in der Münchner Inszenierung die Rolle
des Symbols für kosmische Strahlung und Gravitationskräfte.
die konstruktion »einer welt«
Was war in der Ausstellung zu sehen? Dem vom Parterre zum ersten Stock des
Kunstvereins hinaufsteigenden Besucher öffnete sich zunächst der Blick auf
eine sattblaue Wand. Links vom Durchgang zum mittleren Saal, der einer anderen
Schau vorbehalten war, schaute man auf eine virtuelle Bogenöffnung, von
der gelbe Strahlen nach allen Seiten ausgingen. Die blinde Öffnung korrespondierte
in Größe und Form mit dem tatsächlichen, auf der anderen Seite des
Raumes bestehenden Durchgang zum zweiten Saal, wo sich ein weiterer Teil
der Installation von Kunze befand. Dieser Saal war einschließlich des Bodens
komplett in Blau ausgemalt worden, wobei die auch hier applizierten gelben
Strahlen, gewissermaßen verkehrt, von der Wand auf den Fußboden verlegt waren. In diesem
Raum sah man außerdem zwei Ölbilder, eine streng geometrisch anmutende Wandmalerei und
ein Stativ, dessen oberer Teil aus einem gläsernen Fächer bestand. Beim Gang zurück zum mittleren
Raum war eine Reihe von kleinen, auf blau gestrichenen Holzplatten befestigten Bildern
mit manieristisch anmutenden Kompositionen aus strahlenden Punkten und Linien zu sehen.
Alle Teile der Installation waren aufeinander bezogen, und je länger man das Ganze beobachtete,
desto klarer wurde, dass es sich hier um eine wohlüberlegte Konstruktion handelte. Mit
einem im Katalog publizierten Grundriss hatte Michael Kunze die Parameter der Konstruktion
festgelegt und somit deren rationelle Struktur offenbart. Die beiden Räume wirkten wie zwei
Gegenentwürfe, aus deren Kombination sich ein Raumzusammenhang ergab. Selbst das in die
Ausstellung führende Treppenhaus fand durch die geometrische Wandmalerei Eingang in den
Entwurf. Senkrecht und waagrecht gelegte gelbe Strahlen verbanden schließlich die beiden
Teile zu einer gedachten Einheit. Wo es Konstruktionen gibt, muss es zuerst Messgeräte geben.
Diese Funktion übernahm jenes Stativ, das als »Skulptur« im hinteren Raum des Kunstvereins
aufgestellt war. Das Stativ als Gerät, dem man unterschiedliche Apparate aufsetzen kann, wird
bei Kunze zum symbolischen Träger seines Gesamtentwurfs und taucht seit der Münchner
Schau in diversen Formen bei ihm immer wieder auf.
Ein Statement des Künstlers erläutert die Funktion des »Stativs«: »Letztlich geht es
da immer noch um spielerisch-exaktes (paradox oder nicht) Ermitteln einer (wahrscheinlich
für immer) imaginären Raummitte, natürlich in Anspielung dessen, was der Vermesser vor der
Entstehung einer Architektur machte: Endlich einen festen Punkt finden, auf den hin man idealerweise
eine Welt konstruieren kann. Sowohl die vorbereitende Vermessung als auch die reale
Konstruktion thematisieren eine Annäherung, die sowieso erst in der Unendlichkeit möglich
ist. (Also unmöglich?)«4 Vom heutigen Standpunkt aus erscheint die Ausstellung von 1990 als
ein auf die Spitze getriebenes Konstrukt innerhalb der damals diskutierten postmodernen Theorien
vom Ende aller Utopien. Nachdem heute dieses Ende Realität geworden ist, öffnet sich
für die Kunst erneut die Möglichkeit, aufs Ganze zu schauen, gegensätzliche Ansätze aufzuspüren,
um sie miteinander zu verbinden, und aus der Vermengung des historischen und aktuellen
Materials neue, chiffrierte Konstrukte aufzubauen. Das polierte Gebäude der Postmoderne hat
seine Anziehungskraft verloren. An dessen Stelle tritt ein vielschichtiges, weniger ideologisches,
zugleich aber auch ambivalentes Verständnis von Geschichte, Philosophie, Kunst und Kultur,
aus dem sich eine neue »Konstruktion der Welt« denken lässt.
»Eine Welt« von Michael Kunze, in seiner ersten institutionellen Ausstellung im Kunstverein
München 1990 als programmatisches Statement realisiert, zählt zu den nachhaltigen Versuchen,
eine neue, illusionslose, vielfach auch verstörende Genealogie der Moderne festzulegen.
Halkyonische Tage, Köln 2013, S. 138
[1] Auf meine Einladung hin zeigte Michael Kunze im Kunstverein München vom 20. April bis 13. Mai 1990 die Ausstellung »Eine Welt«. Zur gleichen Zeit wurde hier die Schau »Nina Hoffmann – Performance und Installation« veranstaltet. Es wurden zwei Kataloge veröffentlicht. Die Publikation zur Kunzes Schau beinhaltet die Einführung von Zdenek Felix, ein Interview mit dem Künstler von Daniela Goldmann und ein Statement von Michael Kunze.
[2] Michael Kunze, »Zum Gang der Ausstellung«, in: »Wandmalerei und Bilder«. Ausst.-Kat. Kunstverein München, 1990, S. 11.
[3] Op. cit., S. 11.
[4] Michael Kunze in einer E-Mail an den Autor, 10. Februar 2013.
Abb. 1, 3, 4:
Installation Kunstverein München, 1990, Foto: Marc Berger
Abb. 2:
Grundriss Installation Kunstverein München, Michael Kunze, 1990